manchmal ist Marathon mehr als 42,195 km laufenDie Voraussetzungen für meinen 2. Marathon waren perfekt: Der schneearme Winter zwang mir keine Laufpause auf, ich hab pünktlich 12 Wochen vor dem Marathon mein etwas adaptiertes Steffny-Trainingsprogramm begonnen, war in der Zeit kein einziges Mal krank, der HM in Linz war sehr zufriedenstellend, mein Physio hat mir am Montag noch alle Knochen und Muskeln "geradegebogen" und als Tüpfelchen auf dem i war die Wetterprognose wie bestellt. Mein Ziel war 4:10 - mein Geheimziel 4:05
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Am Freitag nachmittag packe ich meine Tochter ins Auto und wir machen einen Ausflug in die Stadt. Am Residenzplatz holen wir meine Startunterlagen ab und dann wollen wir uns über die angebotenen BIO-Köstlichkeiten hermachen. Auf einmal steht der Sohn von Renate, einer Freundin, vor mir und fragt: Was macht ihr denn hier? Ich freue mich total, weil Renate ursprünglich den HM laufen wollte, aber wegen Knöchelproblemen abgesagt hat. Nachdem es ihr in der letzten Woche bei 2 Testläufen (mit Tape) gut ging, läuft sie jetzt doch. Wir holen uns zu Essen, die Kinder toben rum und auf einmal steht der nächste Bekannte an unserem Tisch. Auf dem Rückweg vor dem Zelt treff ich den nächsten Freund. Salzburg ist und bleibt ein Dorf... Abends fahren wir zu meinem Mann in die Firma und grillen dort und feiern u.a. seinen Geburtstag. Es gibt Bräustübl-Bier im Holzfass und ich denk mir zum ersten Mal an diesem Wochenende: "Es gibt wichtigeres im Leben als Marathon" und lass mir meinen 0,5-Becher 2 mal gut halbvoll füllen *g*.
Am Samstag packe ich meine Tasche, feiere am Nachmittag noch mit den Nachbarn bei Kaffee und Creme-Schnitte (nicht für mich - da war ich hart *g*) den Geburtstag meines Mannes und fahre mit dem Bus nach Salzburg. Mittags hab ich mir eine unglaubliche Portion Nudeln mit Gemüsesugo reingestopft und fürs Abendessen hab ich nochmal eine Portion dabei. Um 18 Uhr bin ich in der Wohnung von Sandra, einer Freundin, die übers Wochenende nicht da ist. Ich stell meine Sachen ab und mach mich kurz darauf auf den Weg Richtung Altstadt. Sandras Wohnung liegt ungefähr bei KM 2,5 der Marathonstrecke, also sehr ideal. Ich gehe zu Fuss und geniesse den lauen Frühlingsabend.
Es ist wie früher, als ich noch in Salzburg gewohnt habe. Ich bin ja eine "richtige" Salzburgerin, vor fast 40 Jahren hier geboren, nach 3 Jahren weggezogen "worden" und mit fast 19 wieder zurückgekehrt. Erst vor 6 Jahren hab ich der Stadt den Rücken gekehrt und lebe auf dem (tiefsten) Land. Am Kapitelplatz herrscht noch emsiges Treiben und ich schlüpfe durch eine Holztür in die kühle Stille der Michaelikirche, wo um 19 Uhr ein ökumenischer Läufergottesdienst mit einem kenianischen Priester sein soll. Die Kirche ist fast leer und gleich kommt ein afrikanischer Geistlicher auf mich zu, begrüßt mich und sagt: Es dauert noch ein paar Minuten. Kurz darauf treffen die kenianische Läuferabordnung und die AMREF-Chef-Organisatoren ein und noch ein paar Österreicher/Europäer. In der Predigt, die leider in schwer verständlichem Englisch war (Deutsch konnte er deutlicher *g*) spricht der Kenianer trotzdem sehr berührend und eindringlich von "Love to your country" und "love between the people". Ich sitze ein paar Meter neben den kenianischen Läufern und mir geht durch den Kopf, was ich im Programm-Heft über sie gelesen habe (dass aus jeder Region Kenias ein Läufer startet um ein Zeichen der Solidarität nach den Unruhen zu setzen). Wieder kommt mir mein Marathon so nebensächlich vor.
Nachdenklich spaziere ich "nach Hause", richte meine Sachen her, wärme meine Nudeln auf, finde keinen Taschenrechner und setze mich mit Zettel und Bleistift zum Essen. Ich rechne im Kopf die 5-km-Durchgangszeiten für 5:50-Schnitt und 5:55 aus. Dann geh ich schlafen, die letzten Nächte waren recht unruhig und morgen um 6 klingelt der Wecker. Ich kann lange nicht schlafen, mein Bauch ist so vollgefressen und ich denke - wie oft in den letzten Tagen - über Sinn und Unsinn des Laufens nach. Ich freue mich darüber, dass in Salzburg nicht nur um Bestzeiten gelaufen wird, sondern die Veranstaltung(en) rund um den Marathon wirklich einen Sinn haben.
Um 6 Uhr bin ich schon vor dem Wecker wach, schnell geduscht und angezogen, die Nespresso-Maschine gibt nach kurzem Kampf auf und ich bekomm von ihr einen schönen Kaffe, ich stopf mir 3 Marmeladesemmerl rein (dabei hab ich von den Nudeln noch einen Bauch wie im 6. Monat schwanger). Der Wetterbericht im Radio verspricht Sonne bis Mittag, dann Wolken und Regenschauer. Passt gut, eine Abkühlung auf den letzten 10 km. Ich marschier wieder Richtung Stadt, mache Zwischenstation bei der Umkleide - ich bin um 7:45 die erste dort. Am Residenzplatz zuerst aufs öffentliche WC - hm, hab ich zuwenig Kaffee getrunken? So was doofes, ich will sicher nicht während des Laufes aufs Klo! Also schnell einen Kaffee gekauft - wenn das nur gut geht, eine Stunde vorm Start. Dann mach ich mich auf zum Treffpunkt mit chribi und stokecityrunner. Wir finden uns gleich mal und schnell sind wir mitten in einer netten Plauderei. Ich muss aber noch Startsackerl abgeben und aufs Klo und aufgewärmt hab ich auch noch nicht. Beim langen Anstehen an den Dixi-Klos treffe ich Renate und wir wünschen uns noch schnell alles Gute.
Punkt 8:58 stehe ich unaufgewärmt ganz hinten im übersichtlichen Läuferfeld und hüpfe halt noch ein wenig rum. Ich vergesse nicht, meinen Sensor einzuschalten, was meine größte Panik war *g*. Es geht schon los und ich stelle schnell fest, dass ich zu weit hinten gestartet bin. Den ersten KM passiere ich in 6:01, dabei hab ich aber ständig überholt. Aber es geht gut weiter. Nächster KM 5:46, wieder etwas einbremsen, 5:54, die nächsten 3 wieder 5:46 und ich liege genau auf 5:50-Schnitt. Die Strecke ist ein Traum und der Sensor leistet mir gute Dienste. Schnell hab ich herausen, dass er viel zu langsam anzeigt und ich zu schnell bin, wenn er unter 6:00 anzeigt. Bei der ersten Labe trinke ich brav einen Becher Wasser - im langsamen Trab und freue mich, dass ich keine Zeit auf dem KM verloren habe. Es läuft super und die Strecke und das Wetter und überhaupt alles ist ein Traum. KM 10 passiere ich auch nach Plan - immer noch im Schnitt von 5:50. Nach der zweiten Labe merke ich, dass ich bald hinter den Busch muss - ich hab wohl zu viel getrunken. Auf KM 12 steht ein WC-Häusl rum und ich reiss mir schon fast beim Hinlaufen die Hose runter. Premiere - ich war noch nie bei einem Lauf unterwegs am Klo *g*. Natürlich verlier ich Zeit und versuch sie auf den nächsten kM gutzumachen. Anfangs gelingt das auch, aber dann kommen zähe KM ohne kühlenden Wind durch die Stadt und ich nehm etwas Tempo raus, um den Puls niedrig zu halten. Der ist übrigens die ganze Zeit schön weit unten und ich muss ständig dem Drang widerstehen, schneller zu laufen. Nicht auf der ersten Runde, hab ich mir vorgenommen! Bei KM 15 vergesse ich, die Zeit zu kontrollieren, aber ich hab den Verdacht, schon etwas verloren zu haben. KM 16 - das erste Gel. Jetzt gehts durch die Stadt und irgendwie ist das viel anstrengender und wärmer und lange nicht so schön. Beim Bräustübel vorbei denke ich mir, wenn in der zweiten Runde was schiefgehen sollte, steige ich hier aus *g*. Für eine Marathonläuferin werdens schon ein Gratis-Bier haben... Bei KM 20 stelle ich fest, dass ich 1:30 hinter meinem Plan bin. Kein Wunder, die KM-Zeiten nähern sich teilweise den 6 Minuten, je nach Sonne/Schatten. Zwischendrin gibts aber auch wieder 5:47er. Der PUls ist jetzt etwas höher, aber noch unter 153. Nachdem mir klar ist, dass mich die Rechnerei überfordern wird, höre ich hier auf, die 5km-Zeiten zu kontrollieren. Den HM passiere ich in 2:04. Hier geniesse ich das Gefühl, nicht rechts in Ziel sondern links in die zweite Runde weiterzulaufen. Auf einmal bin ich fast allein. Neben mir taucht eine Läuferin auf, fragt mich nach meiner geplanten Zeit und wir plaudern etwas. Sie läuft ihren ersten Marathon und hat Angst, einzugehen. Ich fürchte, berechtigterweise. So nett die Plauderei ist, ich hab mit meinem Puls zu kämpfen. Der ist unbemerkt hochgegangen. Ich werde etwas langsamer und entschliesse mich, ab jetzt nicht mehr so pingelig zu sein und schon früher die Bremse etwas locker zu lassen. In der kühlen, schattigen Allee geht der Puls von selber wieder runter und ich lauf Zeiten knapp unter 6 Minuten. Stadteinwärts ab KM 28 finde ich den Wind jetzt stärker, hat aber den Vorteil, dass er gut kühlt. Natürlich finde ich wieder keinen brauchbaren Windschatten. Ich kümmer mich nicht mehr um meinem Puls, sondern laufe einfach nur dahin, glücklich und zufrieden mit mir und der Welt. Ich fühle mich reich, diese wunderbare Strecke laufen zu können und ich danke jedem Zuschauer, der mich anfeuert. Ein schönes Gefühl, irgendwie friedlich und ruhig. Mein Puls ist alles andere als ruhig und krebs schon die ganze Zeit bei 153 rum. Das KM 30 - Schild. Jetzt warte ich auf den Mann mit dem Hammer. Kommt er heute? Ein wenig herausgefordert hätte ich ihn ja - oder doch nicht? Ich sehe, er ist mit anderen Läufern beschäftigt. Ich setze ihm ein zweites Gel entgegen. Scheint so, er mag mich nicht
. Jetzt kommt wieder die zähe Strecke durch die Stadt. Meine Beine sind schon längere Zeit müde, der Puls sinkt immer wieder auf 150, ich möchte nachlegen, aber die Beine wollen nicht. Zu meiner Freude habe ich einen Läufer im Gnack hängen, der ständig wie ein Nilpferd schnauft und prustet und mir jede Kurve und Änderung der Strassenseite nachmacht. Wenn er nicht so prusten würde *nerv*! Bei KM 39 gehts über eine Brücke und auf der Steigung zieh ich das Tempo unvermittelt an und bin ihn los. Hehe, geht ja doch noch was. Das bringt mir noch einen 5:50er ein. Trotzdem bleibe ich an der nächsten Labe in Ruhe stehen, trinke 2 Becher Wasser und freue mich auf die letzten 2 KM. Auf den Adrenalinschub warte ich schon seit KM 35, er kommt nicht (hat wohl eine Rendevouz mit dem Hammermann?), somit bin ich ganz ruhig und gelassen, auf die Zeit hab ich schon lange nicht mehr geschaut, auf Rechnen hab ich eh keine Lust. Auf der Staatsbrücke fängt auf einmal jemand an zu schreien - ich brauch etwas, bis ich kapiere, es ist stokecityrunner, der mich anfeuert *g*. Er hat ja recht, ich könnte mich schon noch etwas beeilen, also hol ich nochmal alle Kräfte aus den Beinen. Kurz darauf motiviere ich einen "Geher", mit mir die letzten 700 Meter ins Ziel zu laufen und er meint: ok, mit dir probier ichs nochmal. Wir pushen uns gegenseitig, freuen uns gemeinsam und auf den letzten 100 Metern lasse ich ihn davonziehen, ich will meinen Zieleinlauf alleine für mich haben. Der Läufer vor mir steht da, streckt mir die Hand hin und bedankt sich. Gleich darauf ruft mir jemand, eine Freundin steht mit dem Bike da und gratuliert mir. Wir reden ein paar Minuten, aber jetzt hab ich Durst. Ich will weitergehen, ruft aus der anderen Richtung jemand nach mir: Mein Nachbar, der in einer Staffel gelaufen ist. Auch mit ihm ein paar Minuten plaudern, dann muss ich aber wirklich was trinken gehen. Kuchen wär noch da, aber ich hab keinen Hunger. Schade *g*. Mit Wasser und Iso bewaffnet stelle ich mich gleich beim Massagezelt an. Dabei wird mir kurz übel und heiss - der Kreislauf. Dauert gottseidank nicht lange und ich geniesse die ausgiebige Massage. Dann hol ich mir meinen Kleiderbeutel, werfe einen Blick aufs Handy - 5 Anrufe! Alle wollen wissen, wie es mir geht. Ich trinke noch einen Kaffee und esse einen wunderbaren BIO-Apfelkuchen, treffe Renate (die Wahnsinnige ist 1:40 gelaufen und sprudelt noch immer über vor Glückshomonen) und meinen Nachbarn, mit dem ich auch nach Hause fahre.
Ich glaube, ich werde nie einen wirklich "schnellen" Marathon laufen, weil ich keine Sekunde dieses Genusses und dieser Freude und der Zufriedenheit, die ich dabei empfinde, gegen Qual eintauschen will. Vor meinem Ersten Marathon letzten Herbst hat mir jeder gesagt: geniesse ihn, der erste Marathon ist der schönste. Stimmt nicht. Der zweite war anders, nicht so dramatisch und laut im Empfinden, sondern still und voller Glück und Dankbarkeit, auf die Sonnenseite des Lebens gefallen zu sein.