Vom Sieg der Sturheit über die VernunftDie Prognose hatte sich erfüllt und am Marathontag erwache ich (leicht vom Wecker dazu animiert) um 5:30 bei wolkenlosem Himmel. Die gewohnte Marathonroutine wird dieses Mal noch durch das Aufschreiben der Zwischenzeiten auf meinem Unterarm ergänzt – gar kein so leichtes Unterfangen übrigens, auf Papier schreibt es sich leichter als auf Haut. Ein halber Liter Iso zum Frühstück erzwingt mehrere Toilettenbesuche vor dem Aufbruch, aber zumindest bis zum Donauzentrum verhält sich die Blase diesmal kooperativ.
Erste Station (10 Minuten zu spät, hab die Gemächlichkeit der Wiener Linien am Sonntag unterschätzt) am Stephansplatz und dann geht es gleich weiter zum Donauzentrum. Nach dem obligaten Forumsfoto auf der Stiege und dem ebenso rituellen WC-Besuch im Donauplexx geht es Richtung Startbereich. Mitten auf der Kreuzung Wagramer Straße/Arbeiterstrandbadstraße erfolgt spontan das kollektive Fallenlassen der Überbekleidung und ich mache mich mit crow auf zu den LKWs. Heuer wird es eine Soloreise werden, da crow mein Anfangstempo zu schnell ist und boenald dem VCM aus bedauerlichen Gründen fernbleiben muss.
Spontan entschließe ich mich, noch 10 min. aufzuwärmen und biege in eine Seitengasse ab, während sich crow schon mal zum Startblock begibt. Beim Traben durch die Gartensiedlung bietet sich das vertraute Bild von joggenden und ihre Blase an allen möglichen und unmöglichen Orten entleerenden Läufern sowie Gartenbesitzern, die ihre Hecken teilweise mit dem Wasserschlauch verteidigen.
Leider komme ich durch das Aufwärmen ein wenig zu spät in den Startblock und schaffe es nicht mehr so weit nach vorn wie ich gerne gestanden wäre.
Startsignal um 9 Uhr, diesmal scheinbar ohne Donauwalzer, aber selbst im ersten Startblock links war von der Moderation fast nichts zu hören. Über die Reichsbrücke betätige ich mich also wieder mal im Zickzacklaufen und frage mich wieder einmal, wer aller im sub 3:30 Block steht, und zwar vor mir! Der Einlauf in den Prater funktioniert aber problemlos, ich bleibe am linken Rand, weil ich mich ja schlauerweise erkundigt habe, ob die Eigenverpflegung links oder rechts aufgestellt wird. Nach 5km also die erste Verpflegsstelle und – Überraschung – die Eigenverpflegung steht rechts. Na sehr super, also einmal die Hauptallee queren und mein Flascherl gesucht. Wenigstens habe ich keine Mühe meine Flasche zu finden und das Trinken ist mit Flascherl sowieso genial. In meiner Euphorie vergesse ich aber sowohl die Zwischenzeit zu kontrollieren, als auch mir Wasser zum Kühlen mitzunehmen. Alles auf einmal ist ein bisschen viel, das muss ich noch über.
Sonst aber geht es mir gut. Ich finde in mein Tempo und laufe einigermaßen entspannt und guten Mutes aus dem Prater raus auf die Schüttelstraße. Bei der Römerquelle finde ich dann doch einen Becher Wasser um ihn mir über den Kopf zu leeren – es ist eigentlich jetzt schon unangenehm warm und ich merke, dass mir heiß ist im Gesicht. Tempo und Puls passen aber. Beim Einbiegen von der Schwedenbrücke in den Franz-Josefs-Kai passiert mir dann ein unverzeihliches Missgeschick: ich schneide die Kurve so ungeschickt, dass ein Läufer hinter mir fast zu Sturz kommt. Meine Entschuldigung wird mit einem mehr als berechtigten "Pass doch auf du Idiot" quittiert. Dieser Vorfall wird mich die nächsten Kilometer noch beschäftigen. Ich hoffe, dass er seinen Lauf trotzdem beenden konnte. Sowas ist mir noch nie passiert, normalerweise schaue ich eh immer nach hinten, bevor ich die Spur wechsle.
Dieser Vorfall wirkt sich auch gleich auf die Pulskurve aus, aber im Großen und Ganzen bin ich noch voll im Plan und passiere die 10-Kilometermarke in der vorgesehenen und auf den Unterarm gekritzelten Zeit, was ich auch gemerkt hätte, wenn ich hingeschaut hätte. Aber auch hier die gleiche Überforderung. Verpflegung suchen, finden, fallen lassen, wieder aufheben und dabei Gott sei Dank niemanden zu Fall bringen, Zwischenzeit abdrücken. Noch dazu muss ich nach meinen Fans Ausschau halten, was beim Großflächentransparent, das Andrea und Karoline diesmal angefertigt haben eigentlich kein Problem sein sollte. Ist es aber doch, weil sich knapp nach dem Stubentor auch ein paar andere Zuschauer eingefunden haben und das Transparent als Bandenwerbung eingesetzt wird. Abklatschen mit Karoline geht sich aber gerade noch aus.
Es geht weiter über den Ring, an der Oper vorbei, und raus ins Wiental. Hier brennt die Sonne erbarmungslos und zum ersten Mal fällt mir auf, dass es hier wirklich merklich bergauf geht. Mein Puls beginnt zu steigen und das, obwohl ich ein bisschen Tempo rausnehme. 4:40 war der Kilometerschnitt bisher im Mittel und nun laufe ich 4:45 und der Puls steigt trotzdem. Trotz Eigenverpflegung nehme ich nun bei jeder Gelegenheit einen Becher Wasser, aber in den Mund kommt das wenigste davon. Kopf, Nacken, Gesicht, Handgelenke, ich versuche alles zu kühlen, dafür ist ein meist nur halbgefüllter Becher eigentlich schon zu wenig.
Der 16. und 17.Kilometer rauf zum Technischen Museum schlagen sich überhaupt gleich mit 4:56 und 4:53 zu Buche, der Puls nähert sich bedrohlich der anaeroben Schwelle und schön langsam beginne ich ein bisschen zu hadern. Das kann doch nicht sein, die 4:40 waren doch sehr konservativ angelegt und nun tu ich mir schwer das Tempo zu halten, ohne dass der Puls explodiert. Grmpff
. Ist aber scheinbar so. Selbst bergab auf der Mariahilferstraße ändert sich nur wenig an meinen Werten, ich werde zwar geringfügig schneller, aber der Puls bleibt zu hoch. Eigentlich sollte ich jetzt Tempo rausnehmen. Eigentlich.
Beim Westbahnhof fällt mir gerade rechtzeitig ein, dass hier ja Susu mit der Kamera wartet. Den ersten Fotopoint bei km 5 hab ich voll verschwitzt wegen Trinken, Zwischenzeit usw. Diesmal sehe ich den Forumsschirm aber rechtzeitig und hab auf der rechten Seite auch Platz so dass Susanne ein paar tolle Fotos gelingen. Danke dafür!
Auf der inneren Mariahilferstraße geht es nun richtig bergab, aber das ist meinem Puls und auch meinen Beinen wurscht, es ändert sich nur wenig an den unerfreulichen Zeiten. Umso erfreulicher dafür der zweite Treffpunkt mit meinen Fans. Karoline thront auf einem U-Bahn Abgang und auch diesmal gelingt die Kontaktaufnahme.
Eigentlich sollte ich jetzt Tempo rausnehmen. Aber es geht mir gut, der hohe Puls ist sicher nur eine Folge der Temperatur. Wieder auf dem Ring höre ich den Sprecher vom Heldenplatz, aber die wahren Helden biegen jetzt noch nicht ab (wer das heute doch tut, ist aber wahrscheinlich vernünftiger als ich
). Es geht wieder den Ring entlang und beim Abbiegen in die Liechtensteinstraße trete ich auf/in eine Straßenbahnschiene und verknöchle um ein Haar. Der Abschnitt zur Friedensbücke ist einer der ruhigsten und unspektakulärsten, aber ich fühle mich noch immer gut, versuchen noch mehr zu kühlen und auch das erste Gel, das ich bei km 20 genommen habe, entfaltet seine Wirkung. Kurzfristig beruhigen sich sogar Puls und Tempo ein wenig, aber der Durchschnittspuls sollte eigentlich noch zwei, drei Schläge niedriger sein. Noch bleibt er unter der Schwelle, aber das Tempo pendelt sich jetzt bei 4:45 ein.
Schließlich fordert die Blase auch noch ihren Tribut und ich entschließe mich nachzugeben. Diese Pinkelpause wird mich ungefähr die 45 Sekunden kosten, die der zweite Halbmarathon langsamer ist. Hätte ich das da schon gewusst, hätte ich wahrscheinlich versucht, es rauszuschwitzen. Trotzdem geht es nachher etwas erleichtert weiter und ich begegne dem Führungsauto für die erste Frau. Nach 29 km geht es wieder in den Prater und der Schatten wirkt sich wohltuend auf Psyche und Tempo aus. Nicht allerdings auf den Puls, der sich nun endgültig entschlossen hat, die anaerobe Schwelle hinter sich zu lassen. Eigentlich viel zu früh. Eigentlich sollte ich jetzt Tempo rausnehmen. Aber ich will wenigstens unter 3:20 bleiben. Und Stur ist mein zweiter Vornahme. 12 km werde ich doch wohl über der Schwelle laufen können. Gibt's doch nicht, sowas!
Bei km 30 wieder das übliche Spiel: Verpflegung suchen, finden, Gel reinstopfen, trinken, dann Zwischenzeit drücken. Auf die Splits auf dem Arm brauch ich eh nicht mehr schauen, ich weiß, dass ich fast 3 Minuten im Verzug bin. Trotzdem lächeln, weil knapp vor der Hauptalle warten wieder meine Fans. Die Unterstützung vom Streckenrand klappt heuer ganz vorzüglich. Einmal zum Stadion und zurück und dann einmal zum Lusthaus und zurück, ist das nicht fein? Bei km 31 holt mich plötzlich crow ein und ich frage mich, ob es ihn so gut geht oder mir so schlecht? Gott sei Dank hat sich herausgestellt, dass Andy einen Traumtag erwischt hat. Bis zum Lusthaus laufen wir gemeinsam, dann isst er einen Traubenzucker und zündet den Turbo. Der Kerl geht plötzlich ein Tempo, das unwirklich ist und nach ein paar hundert Metern beschließe ich, mich zurückfallen zu lassen, weil ich sonst wahrscheinlich noch vor der Stadionallee mein Leben aushauchen werde.
Ich treffe auf Mischa und knapp vor der Schüttelstraße zum letzten Mal auf Karoline und Andrea. Plötzlich taucht Karoline locker joggend in Jeans und Weste neben mir auf und begleitet mich bis zur Schüttelstraße. Später wird sie sagen: "Papa, dein Tempo hätte ich noch viel länger mitlaufen können". Hm. Wirklich frisch fühle ich mich jetzt eigentlich nicht mehr, aber Karoline hat mir ein Löwenzahnblatt in die Hand gedrückt und ich ernenne dieses Blatt jetzt zum Talisman und lasse es bis ins Ziel nicht mehr los. Meine Pulswerte sind nun endgültig jenseits von gut und böse, aber andererseits sind es ja nur noch schlappe fünf Kilometer ins Ziel. Ich beginne in den Tiefen meiner Hose nach dem Traubenzucker zu kramen und stopfe das, was nach den zahlreichen Abkühlungsduschen davon noch übrig ist, im Kilometerabstand in mich rein. Mit jedem Stück wird es staubiger.
Bei Kilometer 35 gibt es noch einmal ein Flascherl und somit habe ich alle meine sieben Zwerge auch tatsächlich vorgefunden und ohne Zeitverlust aufnehmen können, Wenigstens das hat funktioniert. Der letzte große Hänger, die Vordere Zollamtsstraße wird absolviert, ich überhole die ersten Gehenden, aber obwohl meine Beine schon ordentlich weh tun, bleibe ich im Laufschritt. Wahrscheinlich hätte ich früher Tempo rausnehmen sollen, dann würde es mir jetzt sicher besser gehen. Zu spät die Einsicht, also rauf auf den Ring und die letzten zwei Kilometer durchbeißen. Bis zur Oper noch und dann ist eh schon alles wurscht, dann tragen dich die Leute, denke ich mir. So ist es auch, obwohl ich den letzten Kilometer nicht so genießen kann wie sonst und über meinen Puls nur noch im Beisein meines Anwalts mit der Trainerin sprechen sollte.
Haben die das Heldentor eigentlich über Nacht Richtung Rathaus versetzt oder wieso dauert das heute so lange? Egal, sub 3:20 gehen sich noch aus und endlich biege ich ab, renne durchs Heldentor, stolpere nicht über den EM-Rasen (obwohl er sich reichlich schwammig anfühlt nach 42km) und wanke in 3:19:13 über die Ziellinie. Die Sturheit hat über die Vernunft gesiegt, der geplante Wohlfühl-Marathon ist es nicht geworden, aber ich habe mich weitere 5 min. auf die magische 3-Stundengrenze zubewegt.
Sehr warm war es. Und eigentlich hätte ich nach 15 km Tempo rausnehmen sollen. Eigentlich.